19 Juli 2012

Homo sapiens am Arbeitsplatz.


Wo Menschen sich zu bestimmten Zeiten versammeln, um Arbeitstätigkeiten nachzugehen, findet sich zumeist ein repräsentativer Querschnitt verschiedenster Temperamente. Man schaue einmal genauer hin:

Da sitzt einer, in gebeugter Haltung und mit versteinerter Miene, an einem äußerst wichtigen Projekt. Seine zornige Ernsthaftigkeit begleiten milde Ausrufe der Frustration und kaum hörbare Missfallensbrummer. Er schnauft, kleine Tröpfchen sprühen dabei aus seiner Nase, aber das bemerkt er nicht. Hin und wieder hebt er das Kinn, um einen leeren Blick über die Arbeitenden um ihn herum schweifen zu lassen, fällt dann sogleich zurück in seine ungeduldig geschäftige, halbärgerliche, durch Unzufriedenheit motivierte Arbeitshaltung. Links die Ablage: Ein großer Haufen noch zu Erledigendes. Rechts das griesgrämig Geschaffte. Er ist gefühlte Äonen entfernt von einem Feierabend, der auch heute keine Entspannung bringen wird. Ein innerlicher Wüterich, hier wie daheim. Er schafft alles, weil er denkt, er schaffe es nie.

Die neben ihm arbeitet fröhlicher, besonnener. Sorgfältig und still widmet sie sich ihrer Aufgabe, trägt Stein um Stein ab, heiterer Miene, schichtet neu, entwirft, verwirft, nähert sich ihrem Arbeitssoll in heiterer Gleichmut. Sie scheint den langen und gründlichen Weg bis hin zum Ende der Arbeit zu genießen. Sie hat Zeit, weil sie weiß, sie wird auch heute wieder pünktlich fertig sein. Macht sie einen kleinen Fehler, dann bemerkt sie ihn sofort und korrigiert ihn geduldig. Sie fällt nicht auf, so unscheinbar still und fleißig, wie sie ist. Deshalb wird sie auch heute niemand stören, weil sie niemanden stört. Immer tut sie mehr, als sie müsste. Erst dann kann sie, zufrieden summend, den Weg in ihr schlichtes und aufgeräumtes Zuhause antreten. Dass sie gearbeitet hat, sieht man ihr später nicht an. So gebügelt, gepflegt und gekämmt wie sie kam geht sie auch wieder.

Eine andere arbeitet laut und konsequent an jedem Auftrag vorbei. Sie durchhüpft die Themenblöcke quietschend, wie getrieben, ohne System, ohne sichtbare Erfolge. Der innerlich Wütende würde gerne Kontakt zu ihr aufnehmen und ihr sehr deutlich signalisieren, dass er ihren schlampigen Arbeitsstil nicht schätzt. Sie stiehlt seine Zeit, denn sie weiß nicht, was sie tut. Sie überschlägt sich mit Ideen, die sie nur im Ansatz umsetzt, um Teile des Erdachten mit charmant wie gekonnt hilflosem Lächeln auf den Sollstapel des Wüterichs zu pfeffern. Noch schnauft er nur. Gleich würde er sie anbrüllen, wäre er nicht ein kleines bisschen verliebt in sie. Ihr nimmt jeder hier spät übel, was sie früh verbockt. Sie sieht so entzückend aus mit ihren blonden Locken und den strahlend blauen Sternchenaugen. Viel weiß sie nicht - aber das weiß sie genau. Ihren verwüsteten Arbeitsplatz wird später die sorgfältig Gebügelte aufräumen. Die hübsche Quietschende wird auch heute früher gehen, als sie dürfte. Ohne etwas geschafft zu haben.

Nun kommt der Löwe dazuspaziert. Alle halten erstarrt inne. Er stellt sich breitbeinig in die Mitte des Geschehens, die Hände in den Hosentaschen, taxiert die Arbeitsplätze mit strengem, schnellem, alles erfassendem Blick. Er ist die personifizierte Körpervergrößerungstechnik. Dem Wüterich nickt er knapp zu und legt ihm im Vorbeigehen einen weiteren Auftrag auf seinen Stapel. Der Wüterich wagt kaum zu seufzen. Die Sorgfältige, die just in diesem Moment eifrig einen kleinen Fehler korrigiert, kassiert ein abfälliges Zungeschnalzen und verdrehte Löwenaugen. Sie arbeitet schneller. Der Löwe wendet sich dem Quietscheäuglein zu und legt gönnerhaft einen Arm um ihre Schultern. Er lobt einen ihrer begonnenen Entwürfe und schenkt ihr einen Lutscher.

Ich kann Ihnen sagen, das war heute wirklich richtig spannend mit den vier Dreijährigen auf dem Kinderspielplatz. Meine einjährige Tochter hat unbehelligt etwas abseits gearbeitet. Sie wird später vermutlich Freiberuflerin.

Es grüßt sie grinsend, die Schuhe voller Sand

Ihre Frau B.




(22.03.2005)

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