23 Juli 2012

Duzwut.


Gutes Benehmen zeichnet sich in diesem milchundhoniggesprenkelten Land punktuell dadurch aus, dass Diesländer von Kindesbeinen an lernen, ihnen unbekannte Menschen zunächst zu siezen. Zum Zeichen der noch bestehenden zwischenmenschlichen Distanz und Ehrerbietung gleichermaßen. Duzen tun Diesländer nach seit Generationen weitergeflüsterten Gesetzen erst dann, wenn die gegenseitige Vertrautheit deutlich gewachsen ist, das Lebensalter deutlich unter fünf Jahren oder der Alkoholspiegel deutlich über einem Promille liegt. So weit die Theorie. Entgegen dieser schönen Tradition greift meiner neuesten Privatstudie zufolge jedoch neuerdings eine drastische Duzwut um sich und vor allem um mich. Hier kommt die Praxis:

Häufig duzen Menschen mich, wenn Sie, getäuscht von meinem bescheiden bekleideten Äußeren, verkennen, dass ich sowohl das komplette Alphabet als auch die sinnvolle Zusammensetzung und Verwendung seiner Buchstaben zum Zwecke gehobener Kommunikation beherrsche. Eben zum Beispiel nehme ich bescheiden Platz an einem Tisch in einer Kaffeeausschankeinrichtung und bestelle fermentierte Getränke und ein italienisch getauftes Butterbrot, da entspinnt sich folgender Dialog zwischen dem Butterbrotbringer und mir: „Guten Tag, bringen Sie mir bitte ein Glas Fassbrause und ein Tomatenbutterbrot?“ - „Das steht aber auf der Frühstückskarte, und Du hast bestimmt schon gefrühstückt.“ - „Dann bringen Sie mir bitte das Nachmittagskartentomatenbutterbrot.“ - „Willst Du auch Schinken drauf?“ - Kaum zwanzig Minuten später räumt der Duzdiener den leergegessenen Teller ab, nicht ahnend, dass ich ihn Ihnen bereits beschreibe, und fragt: „Brauchst Du einen Aschenbecher?“ Danke, das wird nötig sein.

Radikal rauchend komme ich nun zur zweiten Kategorie diesländischer Duzattackeure: Die Sozialpädagogen. Nichts gegen diese ehrenwerte Zunft von Menschenerziehern und –betreuern mit statistisch erwiesener geringerer Lebenserwartung als andere Berufsgruppenangehörige. Den Teufel werde ich tun und diese beziehungsarbeitenden Menschenfreunde verbal schmähen, die sich täglich und in Schichtdiensten um jene bemühen, denen wenig Feines zuteil wird und wurde. Die sich um Kopf und vor allem um Kragen studiert haben, um sich fortan stündlich im Kampf gegen die Verrohung der marodierenden Menschheit aufzureiben. Das tun sie. Und: Sie duzen mich. Ausnahmslos alle. Auch der heute morgen, auf dem Spielplatz um die Ecke: „Du, nee, für Deine Tochter haben wir echt gerade keinen Betreuungsplatz frei hier bei den Buddelhühnern, aber frag doch mal die Ingrid von den Schmuddelfinken, die ist gerade mit dem Sören und der Imke da hinten am Klangstein.“ Mich schaudert. Ein Würgen unterdrückend frage ich meine Tochter, die gerade einem Buddelhuhn das Schaufelgerät entwendet: „Wünschen Sie heute Fischstäbchen zum Mittagessen?“ Sie bejaht freudig, nimmt mich bei der Hand und verlässt erhobenen Hauptes und grußlos die Spielstätte wuchernden Warmduzens.

Den Duzvogel schoss allerdings der Handwerker ab, der letzten Mittwoch versuchte, einem Wasserschaden in meiner Küche auf den Grund zu gehen. Gerade wollte ich ihn alleine lassen mit einer Thermoskanne voller Kaffee und all den lecken Leitungen, um meinerseits ein wenig zu arbeiten, als er mir sonor hinterherkumpelte: „Haste auch Zucker für innen Kaffee rein?“

Herrgott, ich hab doch eigentlich grundsätzlich nichts dagegen, wenn Mitmenschen, die meine bisweilen doch recht engen und hochprivaten wie geheimen und exklusiven Lebens- und Wirkungskreise kreuzen, sich mir derart zugetan fühlen, menschlich wie gemeinschaftssituativ, dass sie mich duzen müssen. Quasi im Affekt des Angenehmen. Vorangegangene Gedankengänge stelle ich mir am liebsten so vor: Gott, ist die Frau sympathisch! Und so nahbar! Was für eine wärmelnde Lichtgestalt! Ich glaub, ich sag mal was: „Hallo, möchtest Du all mein Bargeld haben?“ Ehrlich, da ließe ich mich doch zu  gerne duzen. Da würde sich mein sonst so privatsphärisch reserviertes Siezherz weiten, und ich sagte auch zu mir völlig unbekannten Duzern mit meiner samtweichsten Altstimme und einem sehr persönlich gemeinten Lächeln: „Gerne doch! Können Sie es mir bitte etwas einpacken?“

Es grüßt Sie, auch heute herzlich und hochachtungsvoll

Ihre Frau B.







(26.04.2005)

1 Kommentar:

Mama arbeitet hat gesagt…

Panisch schaute ich gerade in meiner Timeline, ob mein Tweet "Und wir würden uns duzen!" zu diesem Post geführt hat - ein Glück, nein, denn dieser Blogpost ist älter. :)

Ich sehe das übrigens genauso. Bin Jahrgang 1966, was ein Grund dafür sein könnte. So oder so: distanzloses Duzen quer durch den Kindergarten, von Erzieher zu Eltern, und beim Frisör, das stört mich.

Im Internet habe ich meine Position dazu kürzlich revidiert: https://www.mama-arbeitet.de/gestern-und-heute/das-tages-du-ubers-siezen-und-duzen

Ich nutze nicht das Tages-Du, sondern das Twitter- und Blogger-Du. Im echten Leben würde mir das nicht einfallen.

Es grüsst Sie herzlich, Christine