16 Dezember 2012

„Jut, denn mal Märri Krissmess, wa?“

Berlin bereitet sich vor. Das Jahr hat es fast geschafft. Jetzt noch schnell Weihnachten feiern und Sylvester, dann ist es Geschichte. Das Jahr rast seinem Ende zu. Menschen werden, dessen ungeachtet, auch in diesem Jahr wieder denken, dass tierisch viel Zeit zum Sachenerledigen und Erholen zwischen Weihnachten und Neujahr ist. Was aber natürlich großer Quatsch ist. Genau so großer Quatsch ist es, diese Zeit, in der keine Zeit ist, "zwischen den Jahren" zu nennen. Zwischen den Jahren ist, genaugenommen, gar nichts. Ein Jahr geht, das andere schließt lückenlos auf, und plötzlich ist wieder ein Januar da. Huch! Na das ging ja fix. Milliarden durchgestrichener 2006er auf frisch datierten Januarbriefen sind der Beweis dafür, dass diese Veränderung vom Gewohnheitstier Mensch nicht einfach so hingenommen wird.

Völlig unbeeindruckt vom Gesetz der Allejahrewiederlichkeit rast nun der durchschnittliche Berliner in der letzten Woche vor Heiligabend los, um alles zu kaufen, was ihm vor die Flinte kommt. Bekanntlich gibt es ja nach Weihnachten niemals jemals wieder irgendeinen Artikel in den Läden. Und sollte es doch noch irgendetwas Käufliches geben, im Januar, dann wird es vermutlich vierhundertmal so teuer sein. Da ist es durchaus angebracht, die Berliner Vorweihnachtsdisziplinen „Einkaufswagen in die Hacken des Vordermanns schieben“, „Genervt nach dem Marktleiter brüllen“, „Den letzten Tannenbaum im Hechtsprung wegschnappen“ und „Bei allem, was man tut, schlimm grimmig sein“ zu perfektionieren. Verkäufer wie Kunden bewegen sich stracks auf ihre persönlichen Nervenzusammenbrüche zu. Nahkampf beim Einkaufen ist schließlich kein Kindergeburtstag, und den von Gottes Jüngstem feiern wir in diesem Jahr an einem Sonntag, da sind die Läden eh zu, das passt.

Mit großen Kopfhörern auf den Ohren sieht man mich, die Exilrheinländerin, dieser Tage durch die Straßen gehen. In akustischer Isolation durch selbstgewählte Ohrenbeschallung ist das externe Gelärme aushaltbarer, schützt jedoch nicht vor verbalen Übergriffen durch vorweihnachtlich verbrauchte Dienstleister. Was Berliner Verkäufern schon im Sommer schwer fällt, wird ihnen nun, in der Vorweihnachtszeit, zur psychischen Zerreißprobe. Als ich eben in der Metzgerei war, um dem Meister des Geschäfts mein Anliegen: „Ich möchte bitte einen Schweinebraten für Samstagvormittag vorbestellen“ zuzuhauchen, brüllte der Bemesserte: „Keene Bestellung mehr jetze, Samstach reinkieken und koofen, wat da is!“. Ich sah das Weiße in seinen Augen und wusste, es wäre ihm lieber gewesen, mich sofort mit dem noch blutigen Messer zu Gyros zu verarbeiten. Als ich floh, krähte des Meisters Weib mir noch ein zackiges „Jut, denn mal Märri Krissmess, wa?“ auf die ungeschützten Ohren. Wenn Gott dem Menschen Augenlider gegeben hat – warum, um Himmels Willen, hat er dann die für die Ohren weggelassen?

Ich überlege mal, wie man dauerhaft mit sowas umgeht, ohne eine Bebrülltwordenselbsthilfegruppe gründen zu müssen. Zwischen den Jahren. Wenn so viel Zeit ist. Zum Sachentun und Sachendenken. Bis dahin Ihnen ein reizendes Fest. Und ich sage es Ihnen gerne mit den goldenen Worten meines Metzgermeisters:
Im Januar reinkieken und lesen, wat da is!

Es grüßt Sie sehr herzlich

Ihre Frau B.





[20.12.2006]

16 September 2012

Heute: Relativ Dramatisches.

Von Albert Einstein geht die Sage, er habe einmal einem dummen Fräulein, das gerne die Relativitätstheorie verstehen wollte, ungefähr folgendes erklärt: „Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einem See und werfen einen Stein hinein. Der ist dann relativ weg.“

Nun kann man sich einen vergleichsweise großen Spaß daraus machen, einmal gründlich darüber nachzudenken, was so alles relativ ist. Zudem ist es ein sinnvoll Unterfangen, von Zeit zu Zeit die Verhältnismäßigkeiten im eigenen Leben unter eine ebenso strenge wie scharfe Lupe zu nehmen und zumindest so zu tun, als wäre dies der eigenen Laune ziemlich zuträglich.

Sicherlich ist es zum Beispiel sehr unbequem, diesen Beitrag an einem Cafétisch zu tippen, der der Schreibenden bis zum Kinn reicht, während ihre Füße orientierungslos an einem riesigen Barhocker herumbaumeln. Mit der Tastatur auf Nasenhöhe und den Fingerknöcheln an den Ohren tippt es sich relativ schlecht und sieht doof aus. Es scheint mir jedoch weitaus unbequemer und doofaussehender, beim Tippen unter Wasser an einem im Bassinboden angeschraubten Stuhl festgebunden zu sein, während um einen herum eine japanische Wasserballmannschaft für die bald anstehenden Wasserballweltmeisterschaften trainiert. Da scheint mir meine Lage doch plötzlich sehr bequem.

Auch ist es relativ störend, dass die hustende Dame am Tisch neben mir heute zwar auf die Verwendung eines Deodorants, nicht jedoch auf den Konsum einer kompletten Schachtel Reval ohne Filter verzichtet. Sie erinnert mich an meine Großmutter, an die ich hin und wieder denken muss, wenn es um Dramatisches geht. Ein modriges Müffeln und ein holpriger Husten wobern um meine tischkantenhohen Ohren und Nasenflügel, doch der Gedanke daran, dass die Dame im Vergleich zu einem gutbesuchten Schweinepfuhl eine veilchen- und mozartgleiche Atmosphäre verbreitet, macht mich leise lächeln. Und während ich so dümmlich selig vor mich hinlächele, mir selbst eine buddhistische Gleichmütigkeit gegenüber den nicht zu ändernden Seinsumständen im Leben verordnend habend, geschieht es wie von selbst: Mein kleiner, bequemer Tisch in der gegenüberliegenden Ecke wird frei. Ich darf umziehen, erlöst aus meiner zwänglichen Zwergenhaltung, endlich entfernt von der störenden Stinkehustefrau.

Dass ich den Weg zu meinem kleinen, bequemen Tisch verhältnismäßig unbeschadet überlebe, verdanke ich überzeugtermaßen allein der Tatsache, dass ich mir kurz vor meinem Aufbruch vorgestellt habe, was im schlimmsten Fall passieren könnte. Im Geiste erhebe ich mich von meinem Barhocker, greife nachlässig eilig, den begehrten Lieblingstisch im Blick, gleichzeitig meine Klappschreibmaschine, den Kaffee, meine zwei Taschen und den Mantel. Hernach falle ich sofort und sehr tief von meinen unverhältnismäßig hohen Autorenschuhen, mit dem Gesicht voran in die Steckrübensuppe des benachbarten älteren Herrn im grauen Zweiteiler, bekleckere und erschrecke ihn stark und breche mir an seinem Suppentellerrand das Nasenbein. Dieses Szenario nimmt sein tragisches Ende selbstverständlich darin, dass mein Mann mich in zwei Jahren verlassen wird, weil ich über die dreiundzwanzig Schönheitsoperationen an der Nase in eine ehevernichtende Depression gesunken bin, die in etwa die Tiefe des Marianengrabens hat.

Verhältnismäßig undramatisch also, dass mir auf meinem Weg zum passenden Tisch lediglich ein Schuhabsatz ab- und ein Kronenzacken ausgebrochen ist.

Eigentlich brauche ich Einsteins Theorie doch nicht zum Glücklichsein. Nun gerade gilt mein freundlicher Gedanke nämlich wieder meiner Großmutter, die es sich zeitlebens nicht nehmen ließ, drei Schachteln Zigaretten am Tag zu rauchen und weise Dinge durch den sie umgebenden Nebel von sich zu brummseln. Wie etwa diesen Satz: „Man muss immer nach unten gucken.“ Sie ist übrigens die einzige mir bekannte Person, die in ihrem Garten hintüberkippte, als sie einen relativ seltenen Vogel im Flug bestaunen wollte. Sie fiel rittlings auf eine herumliegende Harke. Die sechs Löcher in ihrem Hinterkopf waren relativ schnell verheilt.


Nachdenklich an einem Schuhabsatz kauend grüßt Sie verhältnismäßig zufrieden

Ihre Frau B.








(15.02.2005)

15 September 2012

Magenspaß für Nichtwichtige.


Fliegen kann heutzutage jeder, der sich auch eine Fahrkarte bei der Deutschen Bahn leisten kann. Früher war das mal jenen vorbehalten, die besonders wichtig und besonders reich waren. Oder nur reich. Diese Zeiten sind Reisegeschichte. Wenn ich die Wahl habe, fliege ich lieber. Nichtwichtig und unreich. Ich habe einen solchen Heidenspaß an im Flugzeug umherfliegen, dass ich das am liebsten beruflich täte. Berufsfluggast: Leider einer der vielen nicht staatlich anerkannten Ausbildungswege. Bei jedem Flug muss ich beim Startvorgang aufpassen, nicht vor lauter Freude sehr laut zu jauchzen. Flugzeugabheben ist mein persönliches Kinderkarussell. Ein großer und lustiger Magenspaß.

Spaßschmälernd empfand ich jedoch bei meinem letzten Flug von Berlin nach Köln, dass sämtliche Mitfliegende offenbar nicht vom Stamme Huilustig waren. Eingekeilt zwischen lebensfreudebefreiten Sakkos in Grauabstufungen war ich einsames, buntes, fröhlich quietschendes Teilchen einer ausschließlich männlichen Wochenendheimfliegermeute. Die testosterongeschwängerte Vielfliegerluft schien folgende, streng zu befolgende Sakkoregeln in die Kabine zu menetekeln: „Nicht anschnallen! Lässig Wirtschaftsteile von Umsonstzeitungen lesen! Nicht aus dem Fenster schauen! Gelangweilt aussehen! Niemals, niemals ‚Flugzeug’ sagen. Wir sagen ‚Flieger’. Oder ‚Maschine’! Und noch was: Sollte es uns noch so lecker schmecken: Wir bestellen keinen Tomatensaft, wir schauen nicht hin, wenn die Flugbegleiterin turnt, wir essen nach Flugende nicht sofort die Umsonstschokolade auf. “

Neidvolle Blicke folgten mir, als ich mich, gründlich angeschnallt, zunächst der Intensivlektüre des Notfallanweisungsblättchens widmete. Unterdrücktes Stöhnen unweit meines Fensterplatzes, als ich genussvoll meinen Tomatensaft exte. Einem sadistischen Impuls folgend applaudierte ich „Bravo! Bravo!“ rufend, als das Flugzeug landete. Dass deswegen das Sakko neben mir eine massive Ticstörung im Augen- und Oberlippenbereich produzierte, tat mir dann doch etwas leid. Um zum versöhnlichen Ausgleich etwas Farbe in die trübe Fluggemeinschaft zu bringen, schmierte ich abschließend einem allzu Grauen ein wenig Umsonstschokolade ans Jackett, als wir im Bus zum Terminal fuhren. Man tut ja, was man kann.

Nächstes Mal, soviel steht fest, fliege ich, freitagsabends, in Begleitung meiner Tochter. Bestimmt freuen sich die Menschen, wenn ich ihr jedes Detail unserer lustigen Flugreise genau und vor allem laut erkläre. Und wenn zwei vor lauter Magenspaß lachen müssen, trauen sich vielleicht auch die anderen.

Schwungvoll auf ihrem Schreibtischstuhl fortrollernd grüßt Sie sehr herzlich

Ihre Frau B.









[07.04.2006]

23 Juli 2012

Duzwut.


Gutes Benehmen zeichnet sich in diesem milchundhoniggesprenkelten Land punktuell dadurch aus, dass Diesländer von Kindesbeinen an lernen, ihnen unbekannte Menschen zunächst zu siezen. Zum Zeichen der noch bestehenden zwischenmenschlichen Distanz und Ehrerbietung gleichermaßen. Duzen tun Diesländer nach seit Generationen weitergeflüsterten Gesetzen erst dann, wenn die gegenseitige Vertrautheit deutlich gewachsen ist, das Lebensalter deutlich unter fünf Jahren oder der Alkoholspiegel deutlich über einem Promille liegt. So weit die Theorie. Entgegen dieser schönen Tradition greift meiner neuesten Privatstudie zufolge jedoch neuerdings eine drastische Duzwut um sich und vor allem um mich. Hier kommt die Praxis:

Häufig duzen Menschen mich, wenn Sie, getäuscht von meinem bescheiden bekleideten Äußeren, verkennen, dass ich sowohl das komplette Alphabet als auch die sinnvolle Zusammensetzung und Verwendung seiner Buchstaben zum Zwecke gehobener Kommunikation beherrsche. Eben zum Beispiel nehme ich bescheiden Platz an einem Tisch in einer Kaffeeausschankeinrichtung und bestelle fermentierte Getränke und ein italienisch getauftes Butterbrot, da entspinnt sich folgender Dialog zwischen dem Butterbrotbringer und mir: „Guten Tag, bringen Sie mir bitte ein Glas Fassbrause und ein Tomatenbutterbrot?“ - „Das steht aber auf der Frühstückskarte, und Du hast bestimmt schon gefrühstückt.“ - „Dann bringen Sie mir bitte das Nachmittagskartentomatenbutterbrot.“ - „Willst Du auch Schinken drauf?“ - Kaum zwanzig Minuten später räumt der Duzdiener den leergegessenen Teller ab, nicht ahnend, dass ich ihn Ihnen bereits beschreibe, und fragt: „Brauchst Du einen Aschenbecher?“ Danke, das wird nötig sein.

Radikal rauchend komme ich nun zur zweiten Kategorie diesländischer Duzattackeure: Die Sozialpädagogen. Nichts gegen diese ehrenwerte Zunft von Menschenerziehern und –betreuern mit statistisch erwiesener geringerer Lebenserwartung als andere Berufsgruppenangehörige. Den Teufel werde ich tun und diese beziehungsarbeitenden Menschenfreunde verbal schmähen, die sich täglich und in Schichtdiensten um jene bemühen, denen wenig Feines zuteil wird und wurde. Die sich um Kopf und vor allem um Kragen studiert haben, um sich fortan stündlich im Kampf gegen die Verrohung der marodierenden Menschheit aufzureiben. Das tun sie. Und: Sie duzen mich. Ausnahmslos alle. Auch der heute morgen, auf dem Spielplatz um die Ecke: „Du, nee, für Deine Tochter haben wir echt gerade keinen Betreuungsplatz frei hier bei den Buddelhühnern, aber frag doch mal die Ingrid von den Schmuddelfinken, die ist gerade mit dem Sören und der Imke da hinten am Klangstein.“ Mich schaudert. Ein Würgen unterdrückend frage ich meine Tochter, die gerade einem Buddelhuhn das Schaufelgerät entwendet: „Wünschen Sie heute Fischstäbchen zum Mittagessen?“ Sie bejaht freudig, nimmt mich bei der Hand und verlässt erhobenen Hauptes und grußlos die Spielstätte wuchernden Warmduzens.

Den Duzvogel schoss allerdings der Handwerker ab, der letzten Mittwoch versuchte, einem Wasserschaden in meiner Küche auf den Grund zu gehen. Gerade wollte ich ihn alleine lassen mit einer Thermoskanne voller Kaffee und all den lecken Leitungen, um meinerseits ein wenig zu arbeiten, als er mir sonor hinterherkumpelte: „Haste auch Zucker für innen Kaffee rein?“

Herrgott, ich hab doch eigentlich grundsätzlich nichts dagegen, wenn Mitmenschen, die meine bisweilen doch recht engen und hochprivaten wie geheimen und exklusiven Lebens- und Wirkungskreise kreuzen, sich mir derart zugetan fühlen, menschlich wie gemeinschaftssituativ, dass sie mich duzen müssen. Quasi im Affekt des Angenehmen. Vorangegangene Gedankengänge stelle ich mir am liebsten so vor: Gott, ist die Frau sympathisch! Und so nahbar! Was für eine wärmelnde Lichtgestalt! Ich glaub, ich sag mal was: „Hallo, möchtest Du all mein Bargeld haben?“ Ehrlich, da ließe ich mich doch zu  gerne duzen. Da würde sich mein sonst so privatsphärisch reserviertes Siezherz weiten, und ich sagte auch zu mir völlig unbekannten Duzern mit meiner samtweichsten Altstimme und einem sehr persönlich gemeinten Lächeln: „Gerne doch! Können Sie es mir bitte etwas einpacken?“

Es grüßt Sie, auch heute herzlich und hochachtungsvoll

Ihre Frau B.







(26.04.2005)

19 Juli 2012

Homo sapiens am Arbeitsplatz.


Wo Menschen sich zu bestimmten Zeiten versammeln, um Arbeitstätigkeiten nachzugehen, findet sich zumeist ein repräsentativer Querschnitt verschiedenster Temperamente. Man schaue einmal genauer hin:

Da sitzt einer, in gebeugter Haltung und mit versteinerter Miene, an einem äußerst wichtigen Projekt. Seine zornige Ernsthaftigkeit begleiten milde Ausrufe der Frustration und kaum hörbare Missfallensbrummer. Er schnauft, kleine Tröpfchen sprühen dabei aus seiner Nase, aber das bemerkt er nicht. Hin und wieder hebt er das Kinn, um einen leeren Blick über die Arbeitenden um ihn herum schweifen zu lassen, fällt dann sogleich zurück in seine ungeduldig geschäftige, halbärgerliche, durch Unzufriedenheit motivierte Arbeitshaltung. Links die Ablage: Ein großer Haufen noch zu Erledigendes. Rechts das griesgrämig Geschaffte. Er ist gefühlte Äonen entfernt von einem Feierabend, der auch heute keine Entspannung bringen wird. Ein innerlicher Wüterich, hier wie daheim. Er schafft alles, weil er denkt, er schaffe es nie.

Die neben ihm arbeitet fröhlicher, besonnener. Sorgfältig und still widmet sie sich ihrer Aufgabe, trägt Stein um Stein ab, heiterer Miene, schichtet neu, entwirft, verwirft, nähert sich ihrem Arbeitssoll in heiterer Gleichmut. Sie scheint den langen und gründlichen Weg bis hin zum Ende der Arbeit zu genießen. Sie hat Zeit, weil sie weiß, sie wird auch heute wieder pünktlich fertig sein. Macht sie einen kleinen Fehler, dann bemerkt sie ihn sofort und korrigiert ihn geduldig. Sie fällt nicht auf, so unscheinbar still und fleißig, wie sie ist. Deshalb wird sie auch heute niemand stören, weil sie niemanden stört. Immer tut sie mehr, als sie müsste. Erst dann kann sie, zufrieden summend, den Weg in ihr schlichtes und aufgeräumtes Zuhause antreten. Dass sie gearbeitet hat, sieht man ihr später nicht an. So gebügelt, gepflegt und gekämmt wie sie kam geht sie auch wieder.

Eine andere arbeitet laut und konsequent an jedem Auftrag vorbei. Sie durchhüpft die Themenblöcke quietschend, wie getrieben, ohne System, ohne sichtbare Erfolge. Der innerlich Wütende würde gerne Kontakt zu ihr aufnehmen und ihr sehr deutlich signalisieren, dass er ihren schlampigen Arbeitsstil nicht schätzt. Sie stiehlt seine Zeit, denn sie weiß nicht, was sie tut. Sie überschlägt sich mit Ideen, die sie nur im Ansatz umsetzt, um Teile des Erdachten mit charmant wie gekonnt hilflosem Lächeln auf den Sollstapel des Wüterichs zu pfeffern. Noch schnauft er nur. Gleich würde er sie anbrüllen, wäre er nicht ein kleines bisschen verliebt in sie. Ihr nimmt jeder hier spät übel, was sie früh verbockt. Sie sieht so entzückend aus mit ihren blonden Locken und den strahlend blauen Sternchenaugen. Viel weiß sie nicht - aber das weiß sie genau. Ihren verwüsteten Arbeitsplatz wird später die sorgfältig Gebügelte aufräumen. Die hübsche Quietschende wird auch heute früher gehen, als sie dürfte. Ohne etwas geschafft zu haben.

Nun kommt der Löwe dazuspaziert. Alle halten erstarrt inne. Er stellt sich breitbeinig in die Mitte des Geschehens, die Hände in den Hosentaschen, taxiert die Arbeitsplätze mit strengem, schnellem, alles erfassendem Blick. Er ist die personifizierte Körpervergrößerungstechnik. Dem Wüterich nickt er knapp zu und legt ihm im Vorbeigehen einen weiteren Auftrag auf seinen Stapel. Der Wüterich wagt kaum zu seufzen. Die Sorgfältige, die just in diesem Moment eifrig einen kleinen Fehler korrigiert, kassiert ein abfälliges Zungeschnalzen und verdrehte Löwenaugen. Sie arbeitet schneller. Der Löwe wendet sich dem Quietscheäuglein zu und legt gönnerhaft einen Arm um ihre Schultern. Er lobt einen ihrer begonnenen Entwürfe und schenkt ihr einen Lutscher.

Ich kann Ihnen sagen, das war heute wirklich richtig spannend mit den vier Dreijährigen auf dem Kinderspielplatz. Meine einjährige Tochter hat unbehelligt etwas abseits gearbeitet. Sie wird später vermutlich Freiberuflerin.

Es grüßt sie grinsend, die Schuhe voller Sand

Ihre Frau B.




(22.03.2005)

18 Juli 2012

Kindheit in den Siebzigern – Heute: Ausflüge


Jüngst sprachen der Kindsvater und ich über Erfindungen unserer Kindheit, vor denen es, so unsere einhellige Kopfnickung, den Spacelord zu behüten gölte.

Da wäre also zuoberst die Kinderausflugstrinkflasche am Plastikband. Um den Hals gehängt. Man konnte in den Siebzigern Kindern ja ALLES um den Hals hängen, auch eine Portion Schnitzelpommes, den legendären Brustbeutel, Turnbeutel, Urkunden, Medaillen, Rosenkohl und Kleintiere. Die Trinkflasche indes war zumeist orange, plättlich, vorne mit Bärchenbild und oben mit Trinkdeckel, der oval war. die Kinderausflugstrinkflasche war vor allen Dingen eines nicht: Dicht. Dauernd hatte man vollgesuppte Oberbekleidung und war damit Wespenbeute. Killerwespenbeute. Mütterbeute. Mütter"ichmussdasalleswaschenwohastdudennwiedergesteckt"beute.

Hatte man indes so viel feinmotorisches Geschick bewiesen, die Flasche quasi bewegungsfrei 24 Wanderkilometer („Ja, mein Kind, so lange musste die arme Mama damals wandern! Wir hatten ja damals nichts! Da haben wir uns gefreut, wenn wir wenigstens wandern durften mit ein bisschen Tritop in der Kinderausflugstrinkflasche!“) mit sich zu führen, um sie am Ende der Wanderung triumphierend (wenngleich zittriger Hand) auf einem Stein oder einem Reh abzustellen, geschah (der ausgleichenden Siebzigerjahregerechtigkeit halber) folgendes:

Man goss sich einen kräftigen Wandereibelohnungsschluck Tritop in die ovale Becherkappe, setzte an der Querseite an, begann zu trinken - und links und rechts lief einem das Gebräu, sauber am Munde vorbei direkt in die Ohren. Ovale Trinkbecher für Kinder. Spitzenerfindung.
Mit an Tritop erstickten Wespen in den Ohren begab man sich dann auf den 48 Kilometer langen Heimweg, um zu Hause mit den Worten "Wie siehst du denn aus?" zum Strafbaden empfangen zu werden.

Wo war ich gleich? Hedonismus? Introspektion? Fehlerlernen? Keine Zeit für Mätzchen.
Der Haushalt ruft. Und der Spacelord hat noch keine Kinderausflugstrinkflasche.  Für um den Hals. Zur Sicherheit.

(Und überhaupt: Baden schadet ja nie.)




17 Juli 2012

Kein Wunder, dass wir alle verrückt sind.


Ich wurde in eine Welt hineingeboren, in der die Dinge klar geregelt waren. Es gab vor dem Schlafengehen das Sandmännchen, nach dem zweiten Frühstück die Sesamstraße, zum Mittagessen Rosenkohl, nachmittags einen Haufen Kinder an Matsch und am Abend sowie an den Wochenenden die Heimkehr des väterlichen Familienoberhauptes. Dann roch die Siebzigerjahreplattenbauhöhle nach seinem Wangenbrennwasser: Tabac Original. Das beruhigte. Meine Mutter trug tagsüber einen geblümten Acetatkittel, den ich mit Zwieback, Bananen und Knetgummi beschmierte. Abends trug sie gelbe Schlaghosen und braunschwarz geringelte Rollkragenpullover. Nachbarjungs spuckten mir durchgekautes Weißbrot in die Frisur, nach dem Spielen war ich dreckig wie ein Bergarbeiter und teilte das Badewasser mit meiner großen Schwester, die mich vor dem Ertrinken im 15 Zentimeter hohen Wasser vermittels Klammergriff unter den Achseln bewahrte.

Im dreiprogrammigen Fernsehen gab es Gute (Helmut Schmidt, Mutter Theresa, Hanni van Haiden) und Böse (Franz Josef Strauss, RAF, Graf Zahl), in der Hitparade sangen ordentlich Ondulierte von Immerwiedersonntagserinnerungen und Tagen, an denen Conny Cramer starb, der Lebertran schmeckte nach totem Wal und die Butterbrote nach Leberwurst. Meine Eltern wussten und konnten alles, ebenso meine große Schwester. Alles, was ich tun musste, war, innerhalb dieser schönen Gewissheit körperlich und geistig heranzuwachsen. Ersteres gelang mir, bis auf einige zu vernachlässigende Kleinigkeiten (großer Zeh rechts schief, Haare an den Waden, Leberallergie) hervorragend. Zweiteres wurde durch nicht befriedigend beantwortete Fragen vereitelt, kam jedoch erst sehr viel später zum Tragen (Pubertät, grüne Haare, Dagegenseizwang).

Tage kamen und gingen, und ich wachte und schlief, aß und trank, sprach und schwieg, lachte und weinte, widerspruchslos, so wie es die elterliche Regierung vorsah. Was wohl nicht vorgesehen, aber in dieser guten, orangegefärbten Wim-Thoelke-Ratekugelwelt heimlich wirklich war:

Nachts, im Dunkeln, mutierte meine im Bette neben mir ruhende Schwester, vermeintlich schlafend, zu einem gemeinen, zum Sprung ansetzenden Monster. Die Tanne vor dem Fenster, die stückweise hinter den blauen Gardinen hervorblitzte, war in Wirklichkeit ein mich beobachtender Riese, der es ebenso wenig gut mit mir meinte, wie das Monster im Nachbarbett. Beiden war nur zu entrinnen, wenn man regungslos auf dem Rücken verharrte und Blickkontakt vermied. Der Nikolaus im Schaufenster des Supermarktes nebenan wusste, dass ich meinen Adventskalender bereits am 5.12.1975 gerecht zwischen mir und meiner russlanddeutschen Nachbarin Erika, ebenfalls vierjährig, aufgeteilt hatte und schickte mir am 6. deshalb eine Rute, die ich nicht anzufassen wagte, weil ich vermutete, dass sie lebt und unaufgefordert das Hauen anfängt. An der siebten Kachel von links auf dem Gästeklo existierte gottseidank ein von mir installierter Rettungsknopf, dessen Betätigung verhinderte, dass die grüne, im Klo wohnende Riesenschlange mit den gelben Zähnen meinem jungen Leben jäh ein Ende bereitete. Und dass meine Frau Mutter meine eingenässten Beinkleider wechseln musste.

Alles, was meiner Grundschullehrerin, die bildungsministeriell genötigt wurde, ein ausschließlich positiv ausformuliertes Zeugnis an alle ihre Siebzigerjahreerstklässler zu verteilen, dazu einfiel, war: „A. hat häufig gute Einfälle. Sie passt meistens auf. Ihre Beiträge tragen manchmal zum Unterrichtsgeschehen bei.“

So war das damals. Kein Wunder, dass wir alle verrückt sind. Und, ganz unter uns: Völlig klar, dass die Krankenkassen, Gesundheitsreform hin oder her, den Siebzigerjahrgängen häufig gänzlich unerwartet analytische Psychotherapien bewilligen. Wir machen denen vermutlich Angst.

Heute Nacht mit Sicherheit das Licht brennen lässt:

Ihre Frau B.




(08.02.2005)

Mundart trifft Hustenreiz – Willkommen in Berlin!


Es gibt Dinge, die tu ich grundsätzlich nicht. Man mag das rigide, engstirnig oder wertekonservativ nennen. Das ist mir gänzlich einerlei. Es gibt Dinge, die ich, selbst für Geld, gute Worte und phantastische Kontakte zu noch phantastischeren Menschen nie tun werde. Die verstoßen nämlich gegen alles, was irgendwie mit gutem Stil zu tun hat. Das sind die Kevins der zwischenmenschlichen Kommunikation. Das sind Eisberge im Menschenmeer, die jegliche Form von kommunikativer Würde, an Bord einer fehlgesteuerten Worte-und-Taten-Titanic, narzisstisch motiviert versenken.

So werde ich, als Zugezogene in Berlin, niemals mithilfe von Sprachfärbung so tun, als sei ich hier geboren. Das heißt in erster Linie: Niemals, unter keinen Umständen, nie, nie, nie „icke“ zu sagen, wenn ich mich selbst meine. Oder „dit“, wenn ich „das oder dies“ meine. Oder „ooch“, wenn ich „auch“ meine. Wer mich dabei erwischt, darf mich gerne sehr doll hauen. Hier in Berlin wimmelt es von Leipzigern, Feldstädtern, Siegenern, Hannoveranern, Niederrheinern und Münchnern, die kurz nach Zuzug in die Bundeshauptstadt rum-icken, was das Zeug hält und sich dabei rumkumpelnd-witzig „knorke“ finden. Das sprachgefühlschmerzliche ist dabei nicht die bemüht-geranzte Dialektfärbung an sich. Die ist schon in Ordnung in einer immigrantengebeutelten Stadt, die gnadenlos-schwitzkastig von ganz Brandenburg umzingelt ist. Die Dialektfärbung sollte jedoch – Obacht!- dringend und ausschließlich aus einem waschechten Berliner herauspoltern. Die werden hier leider immer seltener. Woran das liegen mag? Ich möchte mir nicht ausmalen, dass der Grund die feindliche Dialektübernahme zugezogenener Nichtberliner ist. Armes Berlin. Arm und unsexy, wenngleich infrastrukturell nix dafür gekonnt.

Ferner geht es mir seit jeher mächtig auf den bei mir medizinisch nicht aufffindbaren, aber situativ deutlich gefühlten Sack, wenn Menschen in klassischen Konzerten husten wie die Bergarbeiter unter Tage auf Zeche Karl. Damit bin ich nicht allein. Thomas Quasthoff, einer der bemerkenswertesten Sänger seines Fachs, der neben den Berliner und Wiener Philharmonikern mit vielen anderen führenden Orchestern regelmäßig auftritt und als Lied- und Konzertsänger sehr beliebt ist, fand deutliche Worte für Konzerthuster. Im Anschluss an eine Lesung seines Buches „Ach, hört mit Furcht und Grauen“ (in dem es wider Erwarten nicht um das grauenhafte und furchtbare Konzertgehuste geht) fragte ein Zuschauer: „Herr Quasthoff, sie haben vor zwei Wochen Ihr Konzert in der Berliner Philharmonie abgebrochen. Warum haben Sie das getan?“ Quasthoff erläuterte geduldig: „Weil ich mich nicht wirklich gut auf ein Lied konzentrieren kann, wenn 1400 Leute husten.“ Der Zuschauer bohrte weiter: „Ja, aber wenn die doch nun alle erkältet sind?“ Die höchst berechtigt unwirsche Antwort des Sängers lautete: „Ach, hörnse auf. Diese ärgerliche Husterei in Konzerten ist ja nun im seltensten Fall erkältungsbedingt. Die dient doch nur dem Spannungsabbau. Und dafür stehe ich nicht zur Verfügung.“

Also, dit hätt ick jenau so ooch jemacht. Knorke, Herr Quasthoff!

Herzlich hustend in Erwartung einiger Spannungsfreiheit entschwindet heute


Ihre Frau B.







(23.10.2007)