16 September 2012

Heute: Relativ Dramatisches.

Von Albert Einstein geht die Sage, er habe einmal einem dummen Fräulein, das gerne die Relativitätstheorie verstehen wollte, ungefähr folgendes erklärt: „Stellen Sie sich vor, Sie stehen an einem See und werfen einen Stein hinein. Der ist dann relativ weg.“

Nun kann man sich einen vergleichsweise großen Spaß daraus machen, einmal gründlich darüber nachzudenken, was so alles relativ ist. Zudem ist es ein sinnvoll Unterfangen, von Zeit zu Zeit die Verhältnismäßigkeiten im eigenen Leben unter eine ebenso strenge wie scharfe Lupe zu nehmen und zumindest so zu tun, als wäre dies der eigenen Laune ziemlich zuträglich.

Sicherlich ist es zum Beispiel sehr unbequem, diesen Beitrag an einem Cafétisch zu tippen, der der Schreibenden bis zum Kinn reicht, während ihre Füße orientierungslos an einem riesigen Barhocker herumbaumeln. Mit der Tastatur auf Nasenhöhe und den Fingerknöcheln an den Ohren tippt es sich relativ schlecht und sieht doof aus. Es scheint mir jedoch weitaus unbequemer und doofaussehender, beim Tippen unter Wasser an einem im Bassinboden angeschraubten Stuhl festgebunden zu sein, während um einen herum eine japanische Wasserballmannschaft für die bald anstehenden Wasserballweltmeisterschaften trainiert. Da scheint mir meine Lage doch plötzlich sehr bequem.

Auch ist es relativ störend, dass die hustende Dame am Tisch neben mir heute zwar auf die Verwendung eines Deodorants, nicht jedoch auf den Konsum einer kompletten Schachtel Reval ohne Filter verzichtet. Sie erinnert mich an meine Großmutter, an die ich hin und wieder denken muss, wenn es um Dramatisches geht. Ein modriges Müffeln und ein holpriger Husten wobern um meine tischkantenhohen Ohren und Nasenflügel, doch der Gedanke daran, dass die Dame im Vergleich zu einem gutbesuchten Schweinepfuhl eine veilchen- und mozartgleiche Atmosphäre verbreitet, macht mich leise lächeln. Und während ich so dümmlich selig vor mich hinlächele, mir selbst eine buddhistische Gleichmütigkeit gegenüber den nicht zu ändernden Seinsumständen im Leben verordnend habend, geschieht es wie von selbst: Mein kleiner, bequemer Tisch in der gegenüberliegenden Ecke wird frei. Ich darf umziehen, erlöst aus meiner zwänglichen Zwergenhaltung, endlich entfernt von der störenden Stinkehustefrau.

Dass ich den Weg zu meinem kleinen, bequemen Tisch verhältnismäßig unbeschadet überlebe, verdanke ich überzeugtermaßen allein der Tatsache, dass ich mir kurz vor meinem Aufbruch vorgestellt habe, was im schlimmsten Fall passieren könnte. Im Geiste erhebe ich mich von meinem Barhocker, greife nachlässig eilig, den begehrten Lieblingstisch im Blick, gleichzeitig meine Klappschreibmaschine, den Kaffee, meine zwei Taschen und den Mantel. Hernach falle ich sofort und sehr tief von meinen unverhältnismäßig hohen Autorenschuhen, mit dem Gesicht voran in die Steckrübensuppe des benachbarten älteren Herrn im grauen Zweiteiler, bekleckere und erschrecke ihn stark und breche mir an seinem Suppentellerrand das Nasenbein. Dieses Szenario nimmt sein tragisches Ende selbstverständlich darin, dass mein Mann mich in zwei Jahren verlassen wird, weil ich über die dreiundzwanzig Schönheitsoperationen an der Nase in eine ehevernichtende Depression gesunken bin, die in etwa die Tiefe des Marianengrabens hat.

Verhältnismäßig undramatisch also, dass mir auf meinem Weg zum passenden Tisch lediglich ein Schuhabsatz ab- und ein Kronenzacken ausgebrochen ist.

Eigentlich brauche ich Einsteins Theorie doch nicht zum Glücklichsein. Nun gerade gilt mein freundlicher Gedanke nämlich wieder meiner Großmutter, die es sich zeitlebens nicht nehmen ließ, drei Schachteln Zigaretten am Tag zu rauchen und weise Dinge durch den sie umgebenden Nebel von sich zu brummseln. Wie etwa diesen Satz: „Man muss immer nach unten gucken.“ Sie ist übrigens die einzige mir bekannte Person, die in ihrem Garten hintüberkippte, als sie einen relativ seltenen Vogel im Flug bestaunen wollte. Sie fiel rittlings auf eine herumliegende Harke. Die sechs Löcher in ihrem Hinterkopf waren relativ schnell verheilt.


Nachdenklich an einem Schuhabsatz kauend grüßt Sie verhältnismäßig zufrieden

Ihre Frau B.








(15.02.2005)

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Liebe Frau B.
Sie schreiben großartige Texte, daher möchte ich mir erlauben, Sie auf einen unerheblichen Flüchtigkeitsfehler hinzuweisen: Marianengraben, heißt die tiefste Stelle im Pazifischen Ozean. Ein n.
Es grüßt Sie aus den Tiefen des Internetraumes

Herr H.

alles b. hat gesagt…

Lieber Herr H.,
ich danke Ihnen herzlich (auch im Namen aller Mariannes) und grüße ebenso zurück in unendliche Weiten -

Ihr alles.

Kevin Blumhagen hat gesagt…

Super interessante und unterhaltsame Texte Ihrer Seits. Danke und Weiter so
Frohes Fest und Lieben Gruß
Kevin Blumhagen